Die Ausläufer der Schockwelle

Interview mit dem Politologen Gilbert Achcar über die aktuellen Umbrüche in der arabischen Welt

Gilbert Achcar, Politologe und Autor libanesischer Herkunft, befasst sich seit Jahrzehnten mit den politischen Systemen des Nahen Ostens und der arabischen Welt. Im Gespräch erläutert er die Projektionen auf die aktuellen Umbrüche aus westlicher Sicht, die Art, in der Islamophobie und antidemokratisches Hegemoniestreben miteinander einhergehen, sowie die Sichtweise eines wahrhaftigen “arabischen Frühlings”, der diesen Namen auch verdient.

Christian Höller: Mit den Umbrüchen in verschiedenen arabischen Ländern verbinden westliche KommentatorInnen ein hohes Maß an Hoffnungen und Ängsten. Hoffnungen, dass nun endlich eine Welle der Demokratisierung diese lange Zeit reformresistenten Gesellschaften erfassen wird. Ängste, dass jetzt möglicherweise noch reaktionärere oder totalitärere Tendenzen die Oberhand gewinnen könnten. Welche dieser beiden Tendenzen überwiegt bei Ihnen, einem profunden Kenner der politischen Systeme in der Region als auch jemandem, der viele persönliche Verbindungen dorthin hat?

Gilbert Achcar: Für mich stellen die jüngsten Ereignisse in erster Linie eine Quelle der Hoffnung dar. Zwar mache ich mir auch Sorgen, was die Entwicklung und die Zukunft der Bewegung betrifft, aber allein die Tatsache, dass eine derartige revolutionäre Schockwelle die Region erfasst hat, ist etwas zutiefst Positives. Jene, die primär Ängste in Bezug auf die Ereignisse hegen, sind implizit immer davon ausgegangen, dass die von den despotischen Regimen gewährleistete Stabilität das geringere Übel gegenüber potenziellen Szenarien wie etwa einer islamisch-fundamentalistischen Machtübernahme darstellt. Derlei Ansichten sind nicht nur ethnozentrisch und antidemokratisch, sondern beruhen insgesamt auf falschen Annahmen. Schließlich war der Grund für die Entwicklung islamisch-fundamentalistischer Bewegungen kein anderer als die Existenz solcher Regime. Tatsächlich wurden die meisten von ihnen von westlichen Ländern finanziell unterstützt, was jeder Idee von Demokratie oder Säkularismus, wie sie der Westen propagiert, zuwiderläuft. So lange es diese despotischen Regime gibt, wird es auch eine fundamentalistische Opposition dagegen geben. Man sollte demgegenüber anerkennen, dass die Bevölkerung dieser Länder genug hat vom Despotismus und dass sie diesen abschütteln wollen, so wie dies in anderen Ländern der Welt auch der Fall ist. Was man beispielsweise in Bezug auf Osteuropa als positiv erachtet, sollte auch für arabische Länder gelten.


CH: Was aus der Distanz auffällt, sind die großen Unterschiede innerhalb der Region. Während es in einigen Ländern (etwa Ägypten) eine anhaltende Welle von Aufständen gibt, ist es in anderen Ländern vergleichsweise ruhig geblieben. Was sind Ihrer Ansicht nach die Gründe dafür, dass einige höchst anfällig für Revolten sind, während andere nahezu immun dagegen sind?

GA: Meiner Ansicht nach ist kein Land immun gegen diese Art von Szenario, von Mauretanien, Marokko und Algerien bis hin zu Jordanien, dem Libanon und Syrien, ja sogar Oman und Bahrain, wie man gesehen hat. Vielleicht sind die Vereinigten Arabische Emirate und Katar die einzigen Staaten, die davon nicht betroffen sind, aber das sind höchst artifizielle Gebilde, in denen die tatsächlichen StaatsbürgerInnen eine kleine Minderheit darstellen, etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung. In den meisten anderen Ländern hängen das Ausmaß und die Form der Proteste vom Grad der Unterdrückung ab, das heißt, in welchem Maße die Regierung verhasst ist oder nicht, wie despotisch diese ist usw. In Tunesien, wo das Ganze seinen Ausgang nahm, gab es eine überaus despotische Regierung, und auch in Ägypten, Libyen und Jemen, wohin sich die Protestwelle ausbreitete, werden die Regime von weiten Teilen der Bevölkerung verabscheut. In den meisten anderen Ländern, mit Ausnahme des saudischen Königreichs, gibt es weniger ein Problem des harschen Despotismus als vielmehr die Forderung nach politischen Reformen oder sozialen Veränderungen wie etwa im Irak. Aber abgesehen davon ist die ungleiche Entwicklung der Bewegung eine logische Folge der Ungleichheit der gesamten Region. Viele Länder ähneln einander, was den Mangel an Entwicklung, sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit angeht. Aber im Hinblick auf die Muster der politischen Machtausübung gibt es selbstverständlich große Unterschiede.

CH: Sie haben kürzlich in einem Artikel festgehalten, dass es sich “zuallererst um einen demokratischen Aufstand handelt”.1 Vom Standpunkt einer stärker ausgeprägten radikalen Demokratie müssten diesbezüglich, zumindest der Möglichkeit nach, alle bedeutenden gesellschaftlichen Gruppierungen an dem Prozess teilnehmen und zur Ausbildung eines neuen Machtgleichgewichts beitragen. Sehen Sie etwas in dieser Richtung in Ägypten passieren, etwa im Unterschied zu Libyen oder Syrien, oder sollte man lieber gar nicht in diesen Begriffen denken?

GA: Ich glaube nicht, dass wir schon an dem Punkt angelangt sind, wo wir über radikale Demokratie nachdenken können – abgesehen davon, dass man zuerst klären müsste, was man darunter versteht. Wenn ich von einer “demokratischen Revolution” spreche, dann meine ich damit, dass die gegenwärtige Bewegung dem “Frühling der Völker”, der 1848 von Paris bis Wien durch Europa fegte, näher steht als der Revolutionswelle von 1918, die im Gefolge der russischen Revolution von radikalen linken Kräften in der Aussicht auf sozialistische Veränderungen vorangetrieben wurde. In der arabischen Welt passiert gerade etwas anderes, viel Grundlegenderes, worauf sich eine breite Koalition geeinigt hat: je despotischer das Regime, desto breiter die dagegen anarbeitende Koalition. Ist der erste Schritt einmal geschafft, nämlich die prominentesten Repräsentanten des Despotismus und der Korruption loszuwerden, besteht der nächste Schritt darin zu definieren, welches andere politische Regime nun folgen soll. Hier kommt es zu Spaltungen der größeren Koalition, was ein ganz normaler Prozess ist. Die Speerspitze der Bewegung sind Leute, denen die Schaffung einer modernen demokratischen Gesellschaft und entsprechender Institutionen am Herzen liegt – meist junge, in politischem Sinn liberale DemokratInnen, ähnlich der Jugend von 1848. Aber überall, wo es ein despotisches Regime gab, existieren auch Gruppen, die religiös-fundamentalistischen Perspektiven anhängen. Sobald die Diktatoren weg sing, tritt eine Spaltung zwischen der islamisch-fundamentalistischen Bewegung und der linken Koalition auf – was in Ägypten und Tunesien bereits deutlich zu sehen ist.

CH: Die Aufstände schienen, zumindest anfangs, stark von der liberalen demokratischen Jugend dominiert. In welchem Ausmaß hat dies eine stärker klassenbasierte Perspektive überschattet? Lässt sich momentan eher ein Ausgleich in dieser Richtung oder ein Ungleichgewicht feststellen?

GA: Am besten, man sieht sich dazu die Fakten an. Die beiden Länder, wo die Aufstände bislang am erfolgreichsten waren, nämlich Tunesien und Ägypten – und man muss dazu sagen, dass es sich auch dort noch um einen anhaltenden Prozess handelt ­, sind jene, in denen sich die Arbeiterbewegung in die Auseinandersetzung eingemischt hat. Dies hat entscheidend dazu beigetragen, die Herrscher der beiden Staaten zu stürzen. Aber eine derartige klassenbasierte Bewegung existiert in Ländern wie Libyen, dem Jemen oder Syrien nicht, sodass es dort bislang auch keine Streiks gab, während ein Streik mitauslösend für den Sturz von Mubarak war. Das heißt nicht, dass die Arbeiterbewegung in Tunesien oder Ägypten die Perspektive der sozialen Veränderung im Sinne einer Überwindung des Kapitalismus verfolgen würde. Es sind dies keine radikal antikapitalistischen Bewegungen – weshalb wir uns auch nicht in einer Situation wie vor dem Ersten Weltkrieg befinden. Vielmehr handelt es sich um ArbeiterInnen, die im Zuge des gegenwärtigen Aufruhrs die Gelegenheit ergreifen, ihre eigenen Forderungen nach Veränderung und Reform vorzubringen. Aber daran zeigt sich auch, wie entscheidend die Rolle der Arbeiterbewegung innerhalb des demokratischen Kampfs sein kann. Es handelt sich hier um ein historisches Muster, etwa wenn man sich die “Wiege der Demokratie” in Großbritannien ansieht, wo die Chartisten-Bewegung des 19. Jahrhunderts einen wichtigen Beitrag zur Durchsetzung des allgemeinen (in Wirklichkeit damals nur männlichen) Wahlrechts gegenüber dem auf Vermögen basierenden Wahlrecht leistete. Für den Gesamtprozess der Demokratisierung war das sehr wichtig.

CH: In der “New York Times” hieß es vor Kurzem: “Im Zuge der gegenwärtigen Revolten und Revolutionen steht die Idee einer umfassenderen ‘Staatsbürgerschaft’ auf dem Prüfstand, jetzt wo die erzwungene Stille der Unterdrückung einer Kakophonie der Diversität weicht.” 2 Stimmen Sie dieser Einschätzung zu, und wenn ja, was wären die nächsten notwendigen Schritte, um die “Kakophonie der Diversität” in ein wahrhaft demokratisches System zu verwandeln?

GA: Nun, ich glaube, dass “Kakophonie der Diversität” nichts anderes heißt als demokratischer Pluralismus. Was politische Regime betrifft, ziehe ich eine Kakophonie einer Symphonie mit einem autoritären Dirigenten vor. Oft wird darauf verwiesen, dass es in dieser Bewegung keine führende Kraft gibt, was meiner Ansicht nach aber vielversprechender ist, als eine führende Partei zu haben, welche die Macht monopolisieren möchte. Ich denke nicht, dass es eine Kakophonie im Sinne von Chaos gibt, sondern dass es in jedem Stadium des Kampfs zu unterschiedlichen Allianzbildungen kommt. Bei derart komplexen Prozessen gibt es nicht den einen Block der Kräfte, der vom Anfang bis zum Ende gleich bleiben würde. Wenn es um den Sturz des Despoten geht, kann sich oft eine sehr breite Allianz bilden, zu der auch religiös-fundamentalistische Kräfte zählen. Wenn es hingegen um die Schaffung neuer Institutionen geht, die das despotische System ersetzen sollen, wird die Allianz naturgemäß viel enger. Die, die für die Demokratie kämpfen, können sich auf dieses eine Ziel einigen und gemeinsam daran arbeiten, ohne sich in ideologische Debatten über Themen wie den Sozialismus zu verstricken. Tatsächlich passiert so etwas im Augenblick auch gar nicht. Den Leuten geht es vielmehr darum, den demokratischen Prozess zu vertiefen und sicherzustellen, dass das, was als revolutionäre Entwicklung begann, nicht vorzeitig abbricht, sondern dass eine tatsächliche demokratische Veränderung stattfindet.

CH: Viele Reaktionen von westlicher Seite scheinen entweder auf recht romantischen Projektionen (in Richtung eines neuen Mekka der Weltrevolution) zu beruhen oder aber von irreführenden orientalistischen bzw. islamophoben Haltungen geprägt. In welchem Maße halten Sie es für möglich, dass man derlei Projektionen vermeidet, speziell vonseiten eines außenstehenden Beobachters?

GA: Wenn es um demokratische Ansinnen oder politische Freiheiten geht, unterscheiden sich AraberInnen oder MuslimInnen nicht von ChinesInnen, LateinamerikanerInnen oder OsteuropäerInnen. Der “Orientalismus” im pejorativen Sinn gehört einer Denkschule an, derzufolge die Menschen grundlegend von ihrer Kultur geprägt sind, es eine unterschiedliche kulturelle Essenz in verschiedenen Teilen der Welt und dementsprechend auch unterschiedliche politische Bedürfnisse gibt. Ich lehne diese Sichtweise ab, da ich Demokratie und Freiheit für universelle Ideen halte, wobei ich nicht vor dem Begriff “universell” zurückschrecke. Schließlich hätte man auch in Bezug auf Europa im 18. Jahrhundert behaupten können, dass die Kultur hier so verfasst war, dass die Völker absolutistische Regime benötigten – was auch der Fall war, bevor die Monarchien abzubröckeln begannen. Ähnliche Theorien gibt es auch in Bezug auf Osteuropa, dessen Völker, von Preußen bis Russland, angeblich vom Totalitarismus abhängig sind. Aber wie man weiß, begann selbst der Stalinismus nach 1989 auf bewundernswert schnelle Art zu bröckeln, um mehr oder weniger demokratischen Regimen zu weichen. Auch wenn Länder wie Russland noch nicht ganz so weit sind, hat das weniger mit Kultur als vielmehr mit den sozioökonomischen und politischen Bedingungen einschließlich der Größe und ungleichen Entwicklung des Landes zu tun. Dass die Zivilgesellschaft dort relativ schwach ausgeprägt ist, hängt auch damit zusammen, dass die Erfahrung des Totalitarismus dort am längsten gedauert hat. Ich möchte hier noch einen anderen Aspekt einbringen: All jene, welche die Gefahr des islamischen Fundamentalismus beschwören, vergessen allzu leicht, dass das schlimmste politische Regime (sowohl was den Fundamentalismus als auch den politischen und sozialen Despotismus betrifft) das saudische Königreich ist. Dieses Land wird vom Westen absurderweise am meisten hofiert. Saudi-Arabien, ein immens reicher Staat, der von einer der extremsten fundamentalistischen Institutionen regiert wird und in Wirklichkeit ein Protektorat der USA ist, ist die Hauptquelle für die Verbreitung des Fundamentalismus in der muslimischen Welt. Über zwei Dekaden lang haben die USA in Allianz mit dem saudischen Königreich den islamischen Fundamentalismus gegen die Linke in der Region in Stellung gebracht – gegen den linken Nationalismus ebenso wie gegen den Kommunismus. Die westliche Islamophobie ist in erster Linie eine Angst vor antiwestlichen islamischen Bestrebungen. Sie sorgt sich primär um westliche Interessen und nicht um die Menschen, die in der Region leben. Jeder, dem Letztere am Herzen liegen, würde sich darüber freuen, dass die Diktaturen nun endlich gestürzt werden, dass nun Demonstrationen möglich sind usw. Außerdem würde man endlich einsehen, dass ein arabischer Staat, der mit dem Westen zusammenarbeitet, nicht unbedingt aufgeklärt sein muss. Das saudische Königsreich ist der beste Beweis dafür.

CH: Eine besondere Angst, der wiederholt Ausdruck verliehen wird, betrifft die Konsequenzen, welche die Aufstände für die Sicherheit des Staates Israel haben. Zugleich steigt die Hoffnung (etwa wenn man an die kürzlich erfolgte ägyptische Grenzöffnung gegenüber Gaza denkt), dass sich die Lebensbedingungen der PalästinenserInnen nunmehr signifikant verbessern könnten. Was sind Ihrer Ansicht nach die wichtigsten Folgen für den israelisch-palästinensischen Konflikt?

GA: Israel ist einer jener Staaten, welche die besagte westliche Haltung widerspiegeln und Demokratie auf arabischer Seite fürchten. So hat es bis dato Zeichen von großer Angst an den Tag gelegt, was die Aufstände in der Region angeht. Man ist hier mit dem Spektakel eines Staates konfrontiert, der für gewöhnlich damit prahlt, “die einzige Demokratie im Nahen Osten” zu sein, und nun große Befürchtungen hegt, weil es rundherum zu demokratischen Umbrüchen kommt. Israel und die Vereinigten Staaten wissen nur allzu gut, dass sie in der Region keine anderen Freunde außer Despoten haben können. Wenn eine Regierung in irgendeiner Form das Ansinnen der Bevölkerung reflektiert, dann steht sie Israel und der USA notgedrungen feindlich gegenüber – und zwar nicht, weil die Leute alle Fanatiker oder Rassisten sind, sondern weil sie extrem unter den beiden Staaten leiden, schließlich halten beide arabische Territorien besetzt. Der gegenwärtige Umbruch lässt zumindest die Hoffnung aufblitzen, dass Israel endlich von seinem Weg der Arroganz und Unnachgiebigkeit abweicht, wie er von der Regierung Netanyahu verkörpert wird. Diese Haltung erzeugt viel Hass auf der Gegenseite, da sie selbst auf tiefer Verachtung beruht. Wenn man sich etwa die “Palestine Papers” ansieht, die vor Kurzem von Al-Jazeera veröffentlicht wurden, 3 merkt man, dass die palästinensische Führung weitestmöglich gegangen ist und zu jedem Zugeständnis bereit war, das die Israelis von ihr verlangt haben, aber nichts im Gegenzug dafür bekommen hat. Im Grunde kann diese “Machtpolitik”, die Israel zur Schau stellt und die einzig und allein auf Gewalt beruht, längerfristig nur zu einer Katastrophe führen, sowohl für die israelische Bevölkerung als auch ihre Nachbarn.

CH: Wird das nicht zu einem weiteren Anstieg des Antizionismus führen?

GA: Man kann sich einen weiteren Anstieg kaum vorstellen, weil die Feindseligkeit gegenüber der israelischen Politik bereits jetzt äußerst hoch ist. Aber diese Feindseligkeit wird vom Verhalten Israels angetrieben, von nichts anderem. Momentan findet ein Prozess der Versöhnung und Einigung unter den PalästinenserInnen statt, aber sie wollen immer noch eine friedliche Lösung erzielen. Der Punkt ist, dass, welche Zugeständnisse Mahmoud Abbas’ Palästinensische Behörde auch gemacht hat, sie nichts dafür bekommen hat.

CH: Die US-Außenpolitik scheint den Aufständen recht unschlüssig und unsicher gegenüberzustehen. Ist das vielleicht der Beginn einer historischen Phase, in der sich das Ende des starken US-Einflusses in der Region abzeichnet? Oder denken Sie, dass die geopolitische Lage in der nahen Zukunft weitgehend unverändert bleiben wird?

GA: Wir sind definitiv Zeugen eines größeren Umbruchs der geopolitischen Lage. Bis vor Kurzem haben die USA ihre Hegemonie in der Region durch die Allianz mit Despoten ausgeübt. Was wir jetzt beobachten, ist ein Anschwellen und Eindringen der Leute in das Feld der Politik, und die USA sehen sich plötzlich einer Situation gegenüber, in der sie sich diesem “populären Faktor” nicht mehr verschließen können. Sie müssen Allianzen mit konservativen Kräften eingehen, die einen größeren Einfluss ausüben, weswegen sie nun in Verhandlung mit der Muslimbruderschaft sind, die sie als vergleichsweise gemäßigte Kraft innerhalb des islamischen Fundamentalismus betrachten. Man sieht dies in Ägypten, wo die Muslimbruderschaft inzwischen mit dem Militär zusammenarbeitet. Die USA versuchen also, einen Plan B für die Region zu entwickeln, mit der Muslimbruderschaft als zentraler Kraft; außerdem bringen sie ihre türkischen Verbündeten ins Spiel; aber der Angelpunkt ihrer Strategie bleiben die Golfstaaten und der Golf-Kooperationsrat (GCC). Schließlich ist dort das ganze Öl, was die Region für die USA so interessant macht. Andernfalls würden sie sich nicht im Geringsten um dieses Gebiet scheren.

CH: Um noch einen anderen Aspekt hier anzusprechen: Viel Aufhebens wurde um die vermeintliche Rolle Neuer Medien und speziell der “sozialen Medien” – Facebook, Twitter usw. – bei der Organisation der Aufstände gemacht. Wie relevant sind solche Behauptungen aus der Sicht eines Politologen? Und wie würden Sie den Status der technischen Modernisierung im Hinblick auf eine politische oder soziale Modernisierung beschreiben?

GA: Wir sollten diese technologischen Mittel als das betrachten, was sie sind, nämlich Hilfsmittel und Instrumente, aber sie schaffen keine Bewegungen. Im Zeitalter der Moderne hat es stets Protestbewegungen gegeben, egal ob in der Ära der Druckerpresse wie im 18. Jahrhundert oder in der des Internets wie heute. Die Leute haben die verfügbare Technologie immer genutzt, um sich zu organisieren und auf die Straße zu gehen. Ein wichtiger Aspekt betrifft aber den Netzwerkcharakter der Organisation, der vom Netzwerkcharakter der Medientechnologie stark begünstigt wird. Letztere erlaubt eine stärker horizontale Art der Organisation und damit auch eine Bewegung ohne erkennbare AnführerInnen. In den meisten heutigen Demokratiebewegungen gibt es diese Tendenz zu neuen, flexibleren Organisationsformen. Mit Werkzeugen wie Facebook lässt sich dies einfacher über ein ganzes Land hinweg bewerkstelligen, wenn nicht sogar eine ganze Reihe von Ländern, während in der Vergangenheit das Ganze an einem bestimmten Ort seinen Ausgang nahm, woraufhin andere Städte dem Beispiel folgten usw. Oder es gab bereits eine führende Partei, die an mehreren Orten organisiert war. Die neue Technologie hat die Schaffung von horizontalen Strukturen erleichtert, aber sie hat die Bewegung sicher nicht geschaffen. In diesem Sinne gab es keine “Facebook-Revolution”.

CH: Vor sechs Jahren haben sie über den “arabischen Frühling” geschrieben und ihn mit den Beiwörtern “spät und kalt” versehen. 4 Es hat eine ganze Weile gedauert, bis dieser metaphorische Frühling Wirklichkeit bzw. “wärmer” wurde. Innerhalb welchen Zeitrahmens, denken Sie, lässt sich der gegenwärtige Frühling in einen ausgewachsenen Sommer verwandeln?

GA: Die Frühlingsmetapher in diesem Artikel war ironisch gemeint. Tatsächlich wollten die Medien und die Regierung Bush den Leuten im Jahr 2005 einreden, dass im Gefolge der Besetzung des Iraks und des Drucks, den die USA auf Ägypten und Saudi-Arabien zum Zwecke kosmetischer Veränderungen ausübten, so etwas wie ein Frühling anbreche. Und in der Tat gab es ja auch Veränderungen, aber es war sicher kein “Frühling der Völker”. Heute ist diese Metapher in viel höherem Maße gerechtfertigt, selbst wenn man sich daran erinnern sollte, dass der “Frühling der Völker” im 19. Jahrhundert ein schlechtes Ende nahm. Aber die Wirkung ließ sich damals nicht mehr aufhalten, und schließlich kam es zu den lange erhofften demokratischen Veränderungen. Ich denke, dass es heute mehr Grund zur Hoffnung gibt, weil im 19. Jahrhundert die allgemeine Verfassung der Welt weitaus despotischer als heute war. Die arabische Welt bildet in der heutigen Welt eher eine Ausnahme, aber die Leute haben begonnen, die Angst zu überwinden, die das beste Werkzeug des Despotismus war. Egal was kurzfristig passiert und wie die Wahlen in einzelnen Ländern auch ausgehen, es besteht die reale Möglichkeit, dass eine starke demokratische Bewegung entsteht. Es gibt also gute Gründe für einen maßvollen Optimismus, ohne dass man sich der Illusion hingeben sollte, dass es in nächster Zeit keine größeren Hindernisse geben wird. Trotzdem: Was bislang schon erreicht wurde, ist absolut beeindruckend.

Vgl. Gilbert Achcar, First and above all, it's a democratic uprising (März 2011), www.zcommunications.org/first-and-above-all-its-a-democratic-uprising-by-gilbert-achcar

Anthony Shadid/David D. Kirkpatrick, Old Divides Threaten Arab Spring, in: The New York Times, Articles selected for Der Standard, 30. Mai 2011.

Vgl. Gilbert Achcar, Arab spring: late and cold, in: Le Monde diplomatique, Juli 2005, http://mondediplo.com/2005/07/06arabworld/

Published 16 November 2011
Original in German
First published by Springerin 3/2011

Contributed by Springerin © Gilbert Achcar, Christian Höller / Springerin / Eurozine

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